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Taksim Gezi Parkı, Istanbul | Symptom internationaler Rechtsstaatenidentitätsprobleme
Es gab die letzten Tage eine Art Stuttgart 21 in der Türkei mit heftigen Zusammenstößen ([1]) zwischen Istanbuler Bürger und Polizei aufgrund des geplanten Abrisses eines idyllischen Stadtparks. Nach offiziell unbestätigten Meldungen zu Folge gab es mehrere Tote, eventuell u.a. bei einem der nachfolgenden Aktionen, wo ein Wasserwerfer-LKW (aka. 10 bar-Augenhöhlenentleerer aus dem Hause Mercedes - WaWe 6000) mit hoher Geschwindigkeit in eine Barrikade reinfuhr, wo zuvor mehrere Personen mit den lebensgefährlich harten Wasserstrahlen eingekesselt wurden.





Immer noch in Lebensgefahr und für mindestens 2 Tage nun ins Koma versetzt, ist Lavna Allani. Ihr Schädel ist vermutlich aufgrund einer der unzähligen, auf die Demonstranten gezielt abgeschossenen Gasgranaten gebrochen:

Lavna Allani

Mit freundlicher Unterstützung der USA:
pepper ammo usa

Erinnert das nicht an den arabischen Frühling in Kairo?
gas grenade ammo usa

Der Stein des Anstoßes ist das Abrissvorhaben des "Gezi Park" beim Taksim-Platz (oben rechts das Hochhaus als Orientierungshilfe) im Rahmen eines Großprojekts mit Einkaufscenter und untertunnelter Straßenführung:

Gezi Parki

Gezi Parki

Der Projektplan sieht vor die grüne Stadtoase für eine Kasernenanlage teilweise abzuholzen (die restlichen Bäume versetzen zu lassen), und dadurch ein Gebäude der Vergangenheit wiederauferstehenzulassen.

Gezi Parki

Diese im Viereck rundherum geplante Kaserne stand in ähnlicher Form vor 1940 schon einmal dort, nur, dass dieser seit 1909 aufgrund eines anderen Geplänkels schwer gezeichnet und baufällig war. Nachdem noch anfänglich die Restauration anstand, wurde bis 1940 der freie Platz inmitten der Gebäude als Fussballstadion genutzt, aber letztlich gab man den Gesamtkomplex dem Komplettabriss frei, um den Platz dann doch zum Park, wie er heute dort steht, umzugestalten.
Soweit zum Vorhaben, was die Gewalteskalationen zwischen Polizei und Bürgern auslöste.

Inzwischen gibt es breite Solidarität von allen Seiten für die gepeinigte, friedlich begonnene Protestbewegung. Der Volkszorn richtet sich nun gegen die Polizei selbst nach ihren maßlos überzogenen Gewaltakten:



Auf den ersten Blick geht es hier natürlich um den Gezi Park, der durch eine gewisse Anzahl von Bewohnern liebgewonnen und verteidigt wurde und demgegenüber steht ein Prestige-Projekt der türkischen Regierung, die dafür den Stadtpark zu plätten bereit ist, da sie keine emotionale Bindung zu diesem Park pflegt.

Wer allerdings genauer hinsieht, wird entdecken, dass in der Türkei diverse, teilweise sehr unterschiedliche Strömungen des gesellschaftlichen Lebens, von streng gläubigen (zumindest wegen der Gewalteskalationen beim Gezi Park), über nationalistisch-kemalistisch-laizistische bis hin zu linken Bevölkerungsschichten sich gemeinsam auf einer Seite befinden, nämlich auf der Seite der Ablehnung gegenüber ihrem Regierungschef Tayyip Erdogan. An dem kleinen Gezi Park entlädt sich eine im Volke angestaute Asympathie, welche sich über mehrere Etappen von Entscheidungen und Ereignissen aufbaute. Erdogan beugte und beugt sich fortwährend US‑Interessen, zeigt sich als hart durchgreifender Ayatollah Chomeini 2.0, wo kaum jemand in der vor USA-Ablehnungsstrotzdenen und Atatürk-geprägten, laizistischen Republik etwas dergleichen möchte. Er gibt den zahnlosen Tiger, der laut gegenüber einem Shimon Perez brüllen kann, aber im Nachgang weiterhin brav die Zusammenarbeit mit Israel auf unzähligen Ebenen fortführt als sei in puncto Mavi Maramara nichts geschehen. Die Positionierung der Türkei durch Erdogan im Spannungsfeld Iran-Israel-Syrien-USA sorgt insgesamt für breitgestreuten Unmut in der relativ gut informierten, türkischen Bevölkerung, denn die Türken wollen weder als Basis für die USA dienen noch einem für jeden ersichtlichen Angriffskrieg gegen Iran und Syrien Pate stehen. Sie möchten nicht die syrienausländischen FSA-Terroristen unterstützt sehen, welche im Auftrag der NATO versuchen Assad zu Fall zu bringen. Ohnehin unsäglich, dass der freie, demokratische Westen Barbaren und Schergen bzw. ehemalige Knastis über arabische Satellitenstaaten nach Syrien entsendet, nur damit unsere Politmarionetten sich selbst nicht noch deutlicher die Hände in Blut baden müssen.
Zudem hat Erdogan bei jüngsten, durch die Al-Nusra (einem Ableger der CIA-Abteilung Al-Quaida) begangenen Anschläge in Reyhanli eine sehr unrühmliche Rolle eingenommen, indem er versuchte diesen Vorfall reflexartig einmal Assad, und ein anderes Mal gegnerischen Parteien anzuheften. Denn es wurde bekannt, dass die Terroristen und ihr Vorhaben der türkischen Geheimpolizei im Vorfeld genaustens bekannt waren und man allem Anschein nach die Anschläge auf türkischem Boden zu Gunsten geopolitscher Interessen zumindest geschehenließ. Da hilft auch keine Nachrichtensperre oder Wegsperren eines Soldaten wegen Geheimnisverrat.
Dass in Reyhanli just an dem Tag des Anschlags alle Kameras aufgrund eines Systemfehlers ausfielen, ist nur ein weiteres Puzzle-Teil in der Geschichte.

Zwar ist inzwischen diese Schlacht gewonnen, der Gezi Park gerettet, da Tayyip Erdogan zurückgerudert ist, aber der Krieg läuft noch, denn grundsätzlich sichtet man ein noch viel fundamentaleres, internationales Problem, was in allen westlichen Ländern zunehmend offenkundig wird: Eine der Hypomanie anheim gefallene, überreagierende, eigentlich als Verwaltungsapparat von und für die Bürger gedachte Regierung. Eine Regierung, bei dem jeglicher Draht zur Bevölkerung verlorenzugehen droht, wenn nicht schon geschehen, und Übereinstimmungen nur zufälliger Natur bzw. - zwecks Kalkül - nur besänftigender oder - als Stein des Anstoßes zum Verschleiern wichtigerer Themen - sogar Spam-artiger Natur für das Volk gedacht sind. Eine Regierung, welche die Polizei durch den Beamtensold und Befehlsketten hindurch als Prügelschwachmaten (und Militär und Geheimdienste als Vorhut des psychisch kranken Kapitalismus) missbraucht. Eine Regierung, welche die Grundregeln des sozialen Miteinanders vergessen hat, wie ein hirnloser Schläger zu Gunsten schneller Durchsetzung und Zielerreichung die guten Sitten hinter sich lässt und die Demokratie durch rohe Gewalt ad absurdum führt.

Deshalb, da die Protestbilder bei wesentlichen Themen rund um die Welt sich nur noch immer wieder wiederholen (wie heute auch in Frankfurt), sollten meiner Meinung nach Proteste sich erst einmal nicht mehr um konkrete Einzelthemen wie S21, blockupy, Anti-Monsanto, Nahrungsbörsenkasino, überhaupt Globalisierung, etc. drehen. Vielmehr bedarf es allem Anschein nach zunächst einmal der Hinwendung zu einem erkrankten Patienten, der vergaß, wer und was es ist.
Die Regierungen haben vergessen, dass friedliche Proteste demokratisch-politische Elemente sind, so wie ein jeder Politiker selbst ein demokratisch-politisches Element ist. Und so wie ein Abgeordneter politische Immunität genießt, muss ein friedfertiger Protest in erster Linie ebenso politische Immunität genießen. Durch Polizei hindurchgetunnelte Schikanen, und erst recht die Verletzung der Unversehrtheit von friedfertigen Protestbewegungen muss sofort und unmittelbar die Suspendierung vom Dienst des Befehligenden (und auch den Rausschmiss eines Innenministers) bedeuten, und das solange Polizisten bei Demonstrationen keine eindeutigen Nummernschilder tragen, die sie persönlich identifizierbar und überhaupt haftbar machen. Ich denke darauf könnten sich alle Gesellschaftsschichten einigen.
Außerdem darf eine kleine Gruppe von Krawallmachern keinesfalls die Macht bekommen als Rechtfertigung für Polizeigewalt gegen friedfertig Protestierende zu dienen. Die gut trainierte Polizei muss diese Gruppen, sobald Gewaltanwendung offensichtlich wird, sie mit Augenmaß, also ohne blinde Gas- und Knüppelwillkür, aus dem Protest entfernen. Nichts anderes kann die Polizeiaufgabe sein! Es sei noch für die Superspezialisten erwähnt, dass Gewalt ganz sicher nicht bedeutet, dass jemand aufgeregt und herumgestikulierend einen Polizisten berührt. Ein volluniformierter, trainierter und gepanzerter Polizist in voller Montur ist nicht aus Zucker, und da sie nicht selten provokant oder missverständlich auftreten, und Protestierenden das Gefühl geben als seien sie sonderbare Randgruppen, vor denen es gilt die Umwelt zu beschützen, kann das bei einigen zart Beseiteten für Frust sorgen. Da muss die Polizei deeskalierend cool bleiben, Pfefferspray und Knüppel steckenlassen. Andernfalls muss das gesamte Gebahren als Eskalationsstrategie gewertet werden.
Für diese Dinge sollten sich zukünftig alle Gesellschaftsschichten in allen Ländern starkmachen und weltweit einen beeindruckenden Protest auf die Straße bringen, so dass diese doppelzüngig als "Wasserstrahl" und "Tränengas" harmlos etikettierte Gewalt endlich ein Ende findet - mitsamt der politisch salonfähig gewordenen Abart die (häufig höchst fragwürdig zustandegekommenen) Zielvorstellungen auf eine verrohte Weise durchzusetzen. Unsere selbstgerühmten Demokraten mit christlicher, islamischer oder sonstiger friedens- und artigkeitsmimikrierender Färbungen mit Schlips und Krawatte müssen auf den Boden der Tatsachen gebracht werden. Das Gebahren der Staaten in aller Welt wieder den Bedeutungen von Würde, Menschenrechten, Demokratie, Verfassungstreue näherbringen, auf die sie so schizophren schwören, unsere amoklaufenden Repräsentanten.

Falls wir das nicht zeitnah machen, werden wir in nicht ferner Zukunft einem Arsenal von nicht-tödlichen Waffen konfrontiert sein, bei der uns jeder relevante Protest scheibchenweise das Hörvermögen kosten wird und wir nebulös an Krebs erkranken werden.






Update:
Livestream aus Istanbul und weitere Bilder:
http://geziparkitv.blogspot.de/
http://www.liveleak.com/view?i=a14_1370008810


Nachtrag:
Erdogan hat nun doch beschlossen auf die Protestbewegung zu pfeifen:
http://www.liveleak.com/view?i=8f6_1370561844
http://www.liveleak.com/view?i=778_1370680640

Nachtrag:
Heute, 10.06.2013 begann die türkische Polizei in Ankara mit scharfer Munition das Feuer auf die Demonstranten zu eröffnen.



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